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Organisationale Resilienz: Rasch agieren, langfristig denken


In Ausnahmesituationen kommt es darauf an, rasch zu reagieren. Im Regelbetrieb sind die Anforderungen an die Business Resilience komplexer und oft gegensätzlich, weiß Barbara Müller-Christensen von der JKU Linz.

Der Bedarf an Resilienz ist nicht neu. Aber noch nie ist so vieles an Erwartungen in diesen Begriff hineingepackt worden wie heute: Widerstandsfähig, stabil, sicher, agil, flexibel, reaktionsschnell, anpassungsfähig gilt es zu sein. All diese Eigenschaften miteinander zu verbinden, wird gerade im Daily Business für viele Organisationen zu einer extremen Herausforderung. Weil es hier heißt, abseits von Notfällen und Krisensituationen, unterschiedlichste und zum Teil sehr gegensätzliche Anforderungen zugleich abzudecken: Stabilität und Flexibilität, kurzfristiges Reagieren und langfristiges Denken – und das macht die Sache so komplex.


Gerade Unterschiede und Gegensätze bieten allerdings durchaus auch Chancen. Das ortet Barbara Müller-Christensen, assoziierte Professorin und stellvertretende Leiterin des Instituts für Leadership & Change Management an der JKU Linz. Sie lehrt und forscht in den Bereichen Führung, organisationales Lernen und Change Management.

Barbara Müller-Christensen ist auch akademische Leiterin des Universitätslehrgangs „Strategic People Management & Cultural Development“ an der LIMAK Austrian Business School sowie wissenschaftliche Leiterin des Executive MBA „Management und Leadership für Frauen“, eines Programms der Johannes Kepler Universität in Kooperation mit der Stadt Linz.


Frau Müller-Christensen, der Begriff der Resilienz ist in den letzten Jahren sehr populär geworden, dennoch ist das Thema nicht neu. Was macht es heute um so viel komplexer?

 

Die Komplexität und damit auch ein Gefühl der Überforderung haben sich zunächst durch die multiplen Krisen entwickelt – von der Pandemie über Wirtschafts- und Energiekrisen bis zur aktuellen geopolitischen Lage – die alle nahtlos ineinander übergangen sind.

Je mehr es dann von einem raschen Reagieren in einer Ausnahmesituation wegging, hin zu einer dauerhaften Resilienz einer Organisation vor dem Hintergrund sich ändernder Rahmenbedingungen, desto deutlicher wurde, dass es hier sehr gegensätzliche Anforderungen abzudecken gilt.

Diese Gegensätze wie etwa Stabilität und Flexibilität auf einen Nenner zu bringen, ist eine sehr  komplexe Herausforderung.

 

Erleben wir also tatsächlich eine neue Anforderung an Resilienz, die es bislang in dieser Ausprägung noch nicht gab?


Das, was hier wirklich eine neue Qualität und Intensität ausmacht, ist die Notwendigkeit, kurzfristig zu reagieren und trotzdem zugleich strategisch langfristig zu denken. Dazu passt das Gleichnis von den Holzfällern, die im Wald dabei sind, einen Baum zu fällen und sich dabei sehr schwertun, weil die Säge stumpf ist. Als ein Wanderer vorbeikommt und sie fragt, warum sie die Säge denn nicht schärfen, antworten sie, dass sie dafür keine Zeit hätten. Die Dynamik um uns herum bringt uns in das Framing, dass wir schnell reagieren müssen und sofort eine Lösung brauchen – und darüber die langfristige Perspektive aus den Augen verlieren. Es ist aber beides notwendig.


Das heißt, die Resilienz einer Organisation definiert sich heute im Kern weniger beispielsweise über ihre Geschwindigkeit, sondern sozusagen über ihre Fähigkeit zu Multitasking?

 

Es geht allerdings nicht nur darum, möglichst viele Tasks gleichzeitig abzudecken, sondern es geht vor allem um das Zusammenführen von Unterschieden. Unterschiede oder Gegensätze sind per se ja nichts Schlechtes – die gibt es und muss es auch geben, etwa zwischen den einzelnen Bereichen eines Unternehmens, in denen es unterschiedliche Anforderungen gibt.

In der Produktion liegt der Fokus vorrangig auf Effizienz, Standardisierung und Optimierung, in der Produktentwicklung vor allem auf Innovation und Offenheit.

Auf der einen Seite ist die Maxime, möglichst effizient und fehlerfrei zu arbeiten und damit die wirtschaftliche Gegenwart des Unternehmens zu sichern, auf der anderen Seite ist das Ziel, etwas Neues zu kreieren, das vielleicht nicht sofort wirtschaftliche Effekte bringt, aber möglicherweise die Voraussetzung für die Zukunft des Unternehmens schafft. Beides ist notwendig. Die Frage ist, wie man eine Brücke zwischen beiden Seiten schafft.

 

Und wie schafft man sie?

 

Dazu ist es nötig, die Perspektiven der anderen kennenzulernen und überhaupt einmal zu erkennen, dass sie die Dinge anders sehen. Eine Business Partnerin im HR-Bereich kann zum Beispiel total stolz auf einen Onboarding-Prozess für neue Mitarbeiter:innen sein und finden, dass dieser extrem erfolgreich läuft, und ein Linienmanager kann mit dem selben Prozess extrem unzufrieden sein, weil er aus seiner Sicht viel zu lange dauert. Gerade zwischen den sogenannten Fachbereichen und den Support-Funktionen wie HR und IT tun sich hier oft Gegensätze auf. Der erste Schritt ist deshalb einmal, die unterschiedlichen Perspektiven sichtbar zu machen – und gleichzeitig zu akzeptieren, dass die Kompetenzen, die jeder Bereich in die Organisation einbringt, zwar unterschiedlich sind, dass aber alle die gleiche Wertschätzung verdienen. Das ist der Kitt, der eine Organisation zusammenhält.

Das vielzitierte Silodenken entsteht ja nicht, weil es unterschiedliche Bereiche gibt, sondern weil man in den meisten Fällen  zu wenig über die anderen Bereiche, ihre Arbeit, ihre Kompetenzen und deren Wert weiß.

 

Wenn man die unterschiedlichen Sichtweisen erkannt hat – wie lassen sich diese zusammenführen?

 

Entscheidend dafür ist, zunächst die Punkte zu identifizieren, an denen es tatsächlich Brücken braucht und an denen es zwischen den unterschiedlichen Bereichen und Sichtweisen zu übersetzen gilt. Es macht keinen Sinn, dass sämtliche Mitarbeiter:innen miteinander vernetzt werden, sondern, dass die richtigen Menschen miteinander vernetzt sind. Wie man die Verbindungen konkret gestaltet, ist eine Frage, die jede Organisation letztlich für sich beantworten muss.

 

Bilden sich hier neue Bereiche und Rollen als Brückenbauer heraus und welche etwaigen Fallstricke gilt es da zu beachten?


Es gibt Beispiele, wo zentrale Bereiche wie HR und IT diese Funktion der Brückenbauer übernehmen. Die sind dafür eigentlich auch prädestiniert, weil sie über alle anderen Bereiche agieren und von daher ohnehin eine verbindende Funktion haben und die Bereiche bei ihrer Tätigkeit bereits in gewisser Weise zusammenführen. Dabei besteht allerdings die Gefahr, dass das Thema Vernetzung dann mental an eine Abteilung abgeschoben wird. Dieses Risiko gibt es natürlich auch, wenn man eigene Rollen für diese Schnittstellen schafft. Vor allem aber kann hier der Druck auf die jeweiligen Personen, die so eine Schnittstelle besetzen, schon sehr groß werden. Und es ist zudem häufig der einfachste Weg, eine Person dafür verantwortlich zu machen, wenn es nicht funktioniert – tatsächlich ist es aber die Organisation rundherum, die nicht funktioniert. Ein anderer Fallstrick, den wir auch beobachten, ist, dass sich solche Rollen auf einzelne Aspekte fokussieren oder darauf fokussiert werden. Das hat die Folge, dass viele andere, insbesondere kulturelle Aspekte, unter den Tisch fallen, die aber auch bedacht werden müssen. Letztlich geht es darum, eine Kultur der Zusammenarbeit zu entwickeln, die Diversität und das Verbindende gleichermaßen wertschätzt.

 

Zeichnen sich in den Forschungsprojekten Organisationskonzepte und -modelle ab, die sich besonders als potenzielle Best Practices oder als Templates anbieten?

 

Es gibt hier eine Reihe von Konzepten und Modellen zu sogenannten „neuen“ Arbeits- und Organisationsformen, die versuchen, den Ansprüchen, die sich durch die eingangs angeführte zunehmende Komplexität ergeben, gerecht zu werden. Ein Trend in den letzten Jahren ist zum Beispiel stark in die Richtung von Netzwerk- oder kreisförmigen Organisationen gegangen.

Das Konzept der ambidextren – also der beidhändig agierenden – Organisation versucht das Balancieren unterschiedlicher Ansprüche und Spannungsfelder abzubilden. Für die Umsetzung braucht es eine andere Art von Zusammenarbeit, als man es aus der klassischen Prozessdenkweise heraus gewohnt ist.

Damit muss man umgehen können, genauso wie mit dem Umstand, dass in solchen „neuen“ Organisationformen die Bereiche und Funktionen teilweise nicht mehr so klar voneinander abgrenzt sind. In diesem Zusammenhang bekommt das Thema Teamworkmanagement eine neue Bedeutung. Es gibt auch das Modell, dass sich Mitarbeiter:innen quer durch alle Abteilungen, ein paar Stunden in der Woche, institutionalisiert in virtuellen Teams, mit einer neuen Thematik beschäftigen. Das beste Erfolgsrezept ist aber, sich die eigene Organisation anzuschauen und zu hinterfragen: Was bedeutet Resilienz für uns? Wo gibt es besonderen Bedarf, resilient zu sein? Und da ist es eine Herausforderung, auch genau zu differenzieren.

 

Zum Beispiel?

 

Wo gibt es Bedarf für Stabilität und Widerstandsfähigkeit und wo für Flexibilität? Wo gibt es Bedarf, weil es hier große wirtschaftliche Risiken gibt? Aber genauso: Wo gibt es intern die größten Ängste vor Veränderungen? Auch potenzielle interne Widerstände sind ein Risikofaktor für die Resilienz einer Organisation.

Wenn sich ein allgemein gültiger Trend beobachten lässt, dann ist das der, dass jene Organisationen am resilientesten sind und sich am besten an geänderte Situationen anpassen können, die sich laufend mit sich selbst auseinandersetzen und das auch in Bezug auf ihre Umwelt: Wie sehen die anderen Bereiche uns?

Und wie sehen externe Partner und Kunden unsere Organisation? Je vielfältiger solche Beobachtungspunkte zur Umwelt genutzt werden, umso besser. Entscheidend ist aber, dass diese Erkenntnisse, die zum Beispiel ein Vertriebsarbeiter von einem Kunden mitnimmt, dann auch durchlässig dorthin in die Organisation getragen werden, wo sie weiterverarbeitet werden sollen. Es sind also gerade diejenigen, die die Übersetzungsleistung erbringen gefordert – das sind meist die Führungskräfte und konkrete Schnittstellenfunktionen. Das erfordert zum einen Selbstwahrnehmung und Selbstführung und zum anderen natürlich viel Empathie.

 

Das heißt vor allem auf die Führungskräfte kommt mit dem Thema Business Resilience die nächste Herausforderung zu, wo es gilt, die Mitarbeiter:innen mitzunehmen?


Ja, absolut. Aber eben nicht nur. Auch hier ist es wichtig, dass diese Aufgabe nicht nur an das People Management abgeschoben, sondern erkannt wird, dass diese Verantwortung gesamtheitlich zu tragen ist. Das beginnt bei der Geschäftsführung, die den strategischen Wert von People & Culture Development erkennt, führt über die professionelle Gestaltung von passenden HR-Systemen und Praktiken durch Personalabteilungen bis hin zur Umsetzung durch die Führungskräfte in den unterschiedlichen Unternehmensbereichen. Die Erwartungen und der Druck, der durch neue Themen an die Führungskräfte herangetragen werden, sind hoch. Dafür braucht es tatsächlich eine Professionalisierung von Leadership. Der klassische, hierarchische Zugang, dass Führungskräfte quasi die Rolle der Heroes übernehmen und sie über Macht und Kontrolle interpretieren, funktioniert nicht mehr. Aber eine „Wohlfühl-Organisation“, in der alle idealisiert mit der gleichen Vision in die gleiche Richtung gehen, wird auch toxisch, wenn vorhandene Unterschiede nicht ausreichend zugelassen werden.

Ein wesentliches Kriterium für ein professionalisiertes Führen ist deshalb, zu lernen und zu verstehen, wie eine Organisation tickt und zu identifizieren, wo es eine Übersetzung und Brücken für ein Verstehen der unterschiedlichen Perspektiven wirklich braucht.

Und dieses Brückenbauen und Übersetzen gilt es zu fördern, indem man den nötigen Raum dafür schafft, in Form von Strukturen, von Rollen, von physischen und digitalen Räumen der Zusammenarbeit, aber auch in Form eines kulturellen Rahmens, in dem unterschiedliche Perspektiven und gegenseitige Wertschätzung gemeinsam Platz haben..



Von Evelin Mayr; Fotos: Karin Schwarz


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