Veränderung ist Neustarten in Serie

Führungskräfte, die langfristigen Erfolg als Ziel haben, fördern Resilienz. Das erfordert die Fähigkeit, loslassen zu können. Ein Gastbeitrag des Transformationsexperten Frank Bieser.
Ihre KundInnen stornieren Aufträge, Ihre Lieferanten hängen jenseits der Grenze fest. Ihre MitarbeiterInnen sind zuhause. Wie soll es weitergehen?
Nicht nur disruptive Innovationen führen immer wieder dazu, dass Unternehmen ihre eigenen Geschäftsmodelle auf den Prüfstand stellen (müssen). Wer in einer Krise mit der Planung beginnt, ist spät dran. Gleichzeitig fehlt es vielen Plänen, die in Schubladen ihr Dasein gefristet haben, an Praxistauglichkeit. Was also tun, wenn man Unternehmer und nicht Unterlasser ist?
Zuerst die unerfreuliche Nachricht: Eine resiliente Organisation entsteht nicht über Nacht, auch nicht in wenigen Monaten.
Sie ist viel mehr das Ergebnis unzähliger Maßnahmen, besonders aber ist Resilienz geprägt von (und erkennbar an) der Haltung der einzelnen Menschen im Unternehmen.
Ein aktuelles Beispiel hierfür ist die Kanadische Regierung, die unter anderem folgende Prinzipien für ihre MitarbeiterInnen im Home Office veröffentlicht hat [Quelle: https://twitter.com/slavetothehat/status/1259978637266366465]:
1. Sie „arbeiten nicht von zuhause“. Sie sind in Ihrem Zuhause, während einer Krise, und versuchen zu arbeiten.
2. Ihre persönliche körperliche, mentale und emotionale Gesundheit ist wichtiger als alles andere.
3. Versuchen Sie nicht, Ihre geringere Produktivität durch mehr Arbeitszeit zu kompensieren.
4. Tun Sie sich einen Gefallen und vergleichen Sie Ihre Situation nicht damit, wie andere mit der Situation zurechtkommen.
5. Tun Sie anderen einen Gefallen und vergleichen Sie deren Situation nicht damit, wie Sie mit der Situation zurechtkommen.
6. Der Erfolg Ihres Teams wird nicht auf die gleiche Weise gemessen wie zu normalen Zeiten.

Sicherheit vermitteln, MitarbeiterInnen auf einer persönlichen Basis ansprechen, Gemeinschaftsgefühl nicht nur mit Plakaten an den Wänden verkünden, sondern vorleben – das alles sind klare Signale für eine starke Loyalität zueinander.
Eine solche positive, menschenzentrierte Einstellung braucht Zeit zum Wachsen, aber dann ist sie robust und währt lange. Zum Vorteil aller im Unternehmen.
Wie diese Grundhaltung die kontinuierliche Innovation begünstigt, wurde unter anderem von Jurgen Appelo und Simon Sinek untersucht.
Die endliche Einstellung
Simon Sinek beschreibt in seinem Buch “Das unendliche Spiel” zwei unterschiedliche Mentalitäten: Die eine nennt er endlich, die andere unendlich.
Grundlage dieser Unterscheidung ist die Beobachtung, dass es Spiele mit bekannten Teilnehmern, definierten Regeln und einer vorgegebenen Zeit gibt [vgl. James P. Carse, “Finite and Infinite Games”, 1986]. Ziel bei endlichen Spielen ist zu gewinnen.
Unabhängige Schiedsrichter stellen sicher, dass nach den Regeln gespielt wird. Am Ende der Spielzeit steht fest, welche Spieler gewonnen haben. Brettspiele fallen ebenso in diese Kategorie wie Laufwettbewerbe oder die meisten Mannschaftssportarten. Diese Art von Spielen haben für viele Menschen einen hohen Unterhaltungswert, einige davon sogar Suchtpotential.
Unternehmen und die darin agierenden Führungskräfte, die mit einer endlichen Einstellung ihren Geschäften nachgehen, verfolgen oft ein Ziel – nämlich den Sieg:
Sieg über die Mitbewerber, Sieg über die Verhandlungspartner oder Ähnliches. Dazu definieren sie für einen willkürlichen Zeitraum willkürliche Kennzahlen, die ihnen erlauben, das Erreichte eindeutig als Sieg zu definieren.
Einige Beispiele:
• die meisten verkauften Tablets im 4. Quartal
• der höchste Auftragseingang seit 2 Jahren
• mehr neue Abonnenten als der Marktbegleiter im Vormonat
Diese Kombinationen aus Kennzahlen und Zeiträumen bergen zwei Arten von Fallen:
1. Die gleiche Kennzahl kann in einem anderen Zeitraum betrachtet ganz anders aussehen.
2. Im gleichen Zeitraum gibt es andere Kennzahlen, die unterschiedliche Schlüsse als “Sieg” zulassen könnten.

Persönlich halte ich es für geradezu absurd anzunehmen, dass der Unternehmenszweck (“Grund der Existenz”) im Erreichen einer bestimmten Kennzahl zu einem festgelegten Zeitpunkt liegt. Ich behaupte sogar, dass eine solche Quartals-KPI-Fixierung die Innovationskraft des Unternehmens mindert. Warum? Wo alle MitarbeiterInnen ständig Gefahr laufen, dass sie aufgrund der Nichterreichung einer willkürlichen Metrik in existentielle Not geraten, wächst kein Vertrauen. Der Teamgeist wird perforiert, Fehler werden unter den Teppich gekehrt. Das Anheuern neuer Talente wird schwieriger. Alles zusammen also kein guter Rahmen für Experimente, Feedback, Mut und andere Zutaten für Innovation.
Und jetzt kommt die gute Nachricht: Es gibt eine Alternative.
Das unendliche Spiel
Simon Sinek vertritt die These, dass wir ebensogut in einer anderen Realität leben könnten. In seiner Vision stellen herausragende Führungskräfte ihre Organisationen für Generationen auf – also für Zeithorizonte, die weit länger andauern als ihre eigene Schaffensperiode.
Wie Carse beschreibt er das unendliche Spiel (von dem es nur eines gibt!) so, dass im Laufe der Zeit die Spieler ebenso wechseln wie die Regeln. Ziel beim unendlichen Spiel ist es im Spiel zu bleiben.
Niemand weiß präzise, in welchem Zustand sich das Gesamtsystem des unendlichen Spiels befindet. Daher prägt der jeweilige Kontext die Akteure und das Reglement.
Und dafür muss man Anpassungsfähigkeit entwickeln; Widerstandsfähigkeit ist hier wichtiger als Stabilität.
Veränderung ist Neustarten in Serie
Genau hier setzt der Innovation Vortex an, den ich Ihnen an dieser Stelle vorstellen möchte.

Der von Jurgen Appelo entwickelte Innovation Vortex passt aufgrund seiner Geometrie gut zu dem Denkmuster des unendlichen Spiels - kein Anfang, keine Linearität, kein Ende. Wie ein Strudel, ein Wirbel oder eine Galaxie symbolisiert der Innovation Vortex ein rotierendes Gebilde, in dem unterschiedliche Kräfte wirken. Einige Bestandteile werden weggeschleudert, während andere ins Zentrum streben, tiefer eindringen und an Geschwindigkeit zunehmen.
Alle Phasen sind gleich wichtig und gleich gültig. Und doch gibt es Zusammenhänge sowie eine logische Reihenfolge, deren Einhaltung sich im unendlichen Spiel günstig auswirkt.
Die #Shiftup Community, ein weltweiter Verbund von Praktikern und Trainern im Bereich Business Agility, geht davon aus, dass die Ermittlung des Kontexts der zentrale Startpunkt ist, weil zum Beispiel KundInnen und NutzerInnen nicht beliebig sind, sondern durch die Produkte einen Nutzen genießen sollen.
Es ist unwahrscheinlich, dass ein Produkt unabhängig von Marktsituation und Funktionalität für alle Personengruppen und jederzeit gleich nützlich ist. Context is king!
Ein weiteres Attribut der Visualisierung sind die Farben, die nach innen hin kräftiger werden. Diese optische Metapher soll andeuten, dass mit zunehmender Spieldauer mehr Klarheit entsteht – genau wie bei Geschäftsmodellinnovation. Was früher (am äußeren Rand) noch Ideen, Experimente und Konzepte waren, wird durch die zyklische Bearbeitung verbessert und präzisiert – wir sprechen bei #Shiftup vom Business-Market-Fit.
Im unendlichen Spiel werden laufend die Aktionen der anderen Spieler in der Umgebung beachtet. Hierbei ist aktuelles, jüngeres Wissen meist wichtiger als historische Erkenntnisse: Wo eine gegnerische Figur vor 73 Zügen stand, ist nicht so relevant wie der momentane Spielzustand; der anhaltende Trend ist dem einmaligen Extremereignis überlegen. Der Innovation Vortex verwendet daher für weiter zurückliegende Entscheidungen blassere Farben.
Simon Sinek schreibt: “In einem unendlichen Spiel setzen sich die Mitspieler dafür ein, dass das Spiel auch für andere weitergeht.”

Aus dieser Mentalität heraus entwickeln sich langlebige Beziehungen sowohl für die MitarbeiterInnen als auch für die NutznießerInnen. Das Personal sucht Lösungen, die dem Bestand des Unternehmens zuträglich sind. Loyale KundInnen nehmen für den Erwerb der Produkte sogar Umwege oder höhere Preise in Kauf. Die Organisation wird resilient.
Bei #Shiftup gehen wir davon aus, dass diverse Geschäftsmodelle in einem Unternehmen zeitgleich in unterschiedlichen Reifegraden koexistieren. Es gibt für jede Phase geeignete Methoden und Kennzahlen – aber keine Methode und keine Kennzahl überdauert den gesamten Lebenszyklus eines Geschäftsmodells. Genau wie beim unendlichen Spiel müssen Unternehmen in guten Zeiten Vorkehrungen treffen, um auch bei geänderten Rahmenbedingungen bestehen zu können. Unternehmen, die sich auf das unendliche Spiel einlassen, brauchen das Ende eines Geschäftsmodells nicht zu fürchten.
Über den Autor:
Frank Bieser ist Gründer und Managing Partner von Frank Bieser Consulting e.U.
Er verfügt über mehr als 35 Jahre Berufserfahrung, den Großteil davon als IT-Führungskraft in multinationalen Konzernen. Neben agilen Transformationsprozessen gehören systemische Organisationsentwicklung und die Theory of Constraints zu seinen Beratungsschwerpunkten.
Unter der Marke Innovation meets Agility bietet Frank Bieser gemeinsam mit seiner Frau Hemma, ebenfalls Unternehmerin, Workshops, Coaching und Keynotes rund um die Themen Innovation Leadership und Business Agility an. Er ist Mitinitiator des Agile Circle, einer neuen Konferenzreihe, die heuer erstmalig auch als Online-Format stattfindet.
Fotos: Lisa Resatz