Im Home Office ist positives Führen noch mehr gefragt

Remote Work und hybride Arbeitsmodelle prägen unsere Gegenwart und vermutlich noch mehr unsere Zukunft. Arbeitspsychologe Boris Zalokar über erfolgreiches Leadership aus der Distanz.
Boris Zalokar gehört zu den renommiertesten heimischen Arbeits- und Organisationspsychologen. Er ist Mitglied des Leitungsteams des Berufsverbands österreichischer Psychologen in der Landesgruppe Niederösterreich und berät Organisationen und Unternehmen beim betrieblichen Gesundheitsmanagement. Als Arbeits- und Gesundheitspsychologe steht er dabei für Führungskräfte, Eigentümer und für die einzelnen Mitarbeiter zur Verfügung. Seine Klienten kommen aus dem Gesundheitsbereich und dem öffentlichen Sektor genauso wie aus der Produktionsindustrie, aus Non Profit-Organisationen und aus universitären Einrichtungen. Für die meisten von ihnen sind Home Office und Remote Work im letzten Jahr zu einem der bestimmenden Themen geworden.
Nach dem ersten Hype um das Home Office hatte man mittlerweile Zeit, Erkenntnisse zu ziehen. Das, was man hört, ist recht ambivalent. Auf der einen Seite nämlich, dass Online Meetings effizienter seien, und dass Aufgaben zum Teil fokussierter erledigt werden können. Auf der anderen Seite, dass die digitale Taktung im Home Office stressiger sei, und dass der informelle Austausch mit den Kollegen und das Gesamtbild fehle. Wie sehen die Erkenntnisse aus der Expertensicht aus?
Das, was es bislang in Österreich und Deutschland an Studien und Umfragen gibt, zeigt eine positive Tendenz: Demnach bestätigen in der Regel ungefähr drei Viertel der Befragten, dass die Arbeitsaufgaben im Home Office gut erledigt werden können, und fast zwei Drittel, dass die Produktivität nicht gesunken oder sogar noch gestiegen ist. Und eine ganz große Mehrheit wünscht sich, in Zukunft verstärkt daheim zu arbeiten. Auch die Evaluierungen zu psychischen Belastungssituationen liefern größtenteils ein positives Bild, zum Beispiel geben die meisten Befragten an, im Home Office konzentrierter arbeiten zu können als im Büro. Und auch der Austausch unter den KollegInnen scheint demnach mehrheitlich gut zu funktionieren. Allerdings ist etwa die Hälfte der Befragten auch der Ansicht, dass ihnen der direkte Kontakt zu den KollegInnen fehlt. Aus meiner Praxis kann ich diese Beobachtungen grundsätzlich bestätigen. Allerdings muss man da auch differenzieren.
Ich stelle gerade, was die sozialen Aspekte und beispielsweise Stress angeht, doch eine erhebliche Streuung fest.
Wie sieht diese Streuung konkret aus und wo besteht vor allem Differenzierungsbedarf?

Viele, die im letzten Jahr ins Home Office übersiedelt sind, waren über eine lange Zeit davon in Kurzarbeit und hatten reduzierten Arbeitsaufwand. Das ist eine andere Ausgangssituation als bei Vollzeitarbeit. Je länger die Home-Office-Phasen dauerten, desto stärker nahm auch das Bedürfnis nach direktem sozialen Austausch zu. Vor allem aber hängt es stark von der jeweiligen Situation ab. Auf der einen Seite von der jeweiligen Branche und den jeweiligen Unternehmen: Auf dem heimischen IT- und Telekom-Sektor beispielweise nutzen 90 Prozent der Betriebe Home Office. Dann folgen mit großem Abstand Industrie, Gewerbe und Produktion mit 40 Prozent. Auch zwischen den einzelnen Unternehmen gibt es beträchtliche Unterschiede: Die Firmen, die bereits vor Corona begonnen hatten, sich für Home Office aufzustellen, konnten ihre Belegschaft vielfach rasch und recht erfolgreich darauf umstellen. Dort hingegen, wo sich in diese Richtung noch kaum etwas getan hatte, kam es zu Problemen … bei den technischen Anwendungen und – oft in Folge davon – auch zu negativen Auswirkungen auf die MitarbeiterInnen. Aber natürlich ist auch die Situation daheim ausschlaggebend. Auch, wenn die Umfragen mehrheitlich ein positives Bild zeigen, verfügen nicht alle Menschen zuhause über einen Arbeitsplatz, den man in Ruhe nutzen kann.
Und wenn man Kinder und dementsprechend Betreuungsaufwand hat, ist das für viele eine beträchtliche Zusatzbelastung. Auch die ergonomische Situation ist oft nicht optimal.
Sehen Sie da auch die Betriebe künftig stärker gefordert?
Auf jeden Fall. Betriebe müssen künftig aus arbeitspsychologischer Sicht beispielsweise darauf achten, wie viele Stunden und Tage im Home Office verbracht werden. Abgesehen davon, dass die Betriebe mit der technischen Versorgung der Heimarbeitsplätze auch stark gefordert sind. MitarbeiterInnen nutzten private Internetverbindungen und Telefone. Diesbezüglich macht es Sinn, verstärkt Weiterbildungen, Kommunikationsplattformen und Schulungen zu technischen Betriebsmitteln anzubieten.
Und die Unternehmen sollten sich auch zunehmend mit Aspekten wie dem sozialen Kontakt, der Abstimmung der Arbeitsaufträge und der Work-Life-Balance befassen.
Was ist beim Thema Home Office für Unternehmensverantwortliche die größte Herausforderung?
Generell ist das vor allem das Thema „Vertrauen“. Ob zuhause genauso viel gearbeitet wird wie im Büro, und ob Leistung erbracht wird. Und wie man als Führungskraft die Kontrolle darüber haben kann. Grundsätzlich gilt auch da: Die Betriebe, die sich bereits vor Corona mit dieser Thematik beschäftigt hatten, zum Beispiel in Führungskräfte-Trainings, um eine gute Vertrauenskultur aufzubauen und einen funktionierenden Austausch zu schaffen, hatten hier einen Vorsprung. Durch Corona ist allerdings der Effekt eingetreten, dass den Betrieben gar nichts anderes übrig blieb, als zu vertrauen, und dass man nun auch die Bestätigung in der Praxis erhielt, dass es mit dem Vertrauensverhältnis gut funktioniert. Ich kann mich in meiner Praxis an keine einzige Anfrage erinnern, bei der es in puncto Home Office und Vertrauen ein Problem gab.
Das Thema Vertrauen wird auch noch weiter relevanter werden, je mehr es in die Richtung geht, zunehmend zeit- und ortsunabhängig zu arbeiten.
Das Thema Vertrauen über die Distanz ist vor allem für Führungskräfte eine Herausforderung. Welche Herangehensweise empfehlen Sie hier?

Alles, was für positive Leadership generell wichtig ist, gilt hier ganz besonders: als Führungskraft auf MitarbeiterInnen zuzugehen, empathisch zu sein, sich über Gelungenes auszutauschen und positive Emotionen zu schaffen. Es gilt, Engagement und Selbstbestimmtheit der MitarbeiterInnen zu fördern und sie antizipativ und aktiv in Entscheidungsprozesse und Dialoge mit einzubeziehen. Und zwar am besten nicht nur innerhalb einer Abteilung, sondern auch übergreifend im Unternehmen oder in der Organisation. Das fördert Engagement und ein Einbringen in den Job über das normale Maß hinaus. Ein weiterer wichtiger Faktor ist aktives Beziehungsmanagement mit den MitarbeiterInnen. Der Workload hat in der Corona-Zeit zugenommen. Auch wenn zum Beispiel für rechtliche oder gesundheitliche Fragestellungen vielfach Hotlines eingerichtet wurden, ist es wichtig, dass Führungskräfte die MitarbeiterInnen auch direkt fragen, wie es ihnen geht, wie das Unternehmen sie unterstützen kann, oder wie sie sich untereinander unterstützen können. Und man sollte dazu auch über die Distanz Zeit fürs Plaudern einplanen.
Jetzt werden viele Führungskräfte vermutlich sagen: Das sind genau die Faktoren, die auf digitalem Weg eine echte Herausforderung sind.
Umso wichtiger werden sie gerade dann. Ein Beispiel ist die Identifikation mit dem Unternehmen:
Je mehr die Leute daheim arbeiten und je weniger sie in direktem Kontakt mit KollegInnen sind, umso wichtiger wird es, diese Identifikation zu stärken,
das Gesamtbild zu vermitteln, aber auch das dabei Sinnstiftende der eigenen Tätigkeit. Es geht aber über den psychologischen motivierenden Faktor hinaus: So ist es wichtig, sich aktiv dazu auszutauschen und zu analysieren, was erfolgreich gelungen ist, und warum diese Ziele erreicht werden konnten. Damit die Führungskräfte – auch und besonders aus der Distanz – um die Stärken der MitarbeiterInnen wissen und diese bei der Verteilung von Aufgaben und Verantwortung berücksichtigen. Das wird umso entscheidender, als wir immer schneller und vernetzter arbeiten.
Kann und sollte man dafür das, was im analogen Miteinander gut funktioniert, in die digitale Welt transformieren? Kann man zum Beispiel informelles Plaudern tatsächlich erfolgreich digitalisieren?
Ich würde Unternehmen darin bestärken, es zu probieren, beziehungsweise das, was grundsätzlich gut funktioniert, beizubehalten, und die positiven Effekte zu überprüfen. Der zufällige Austausch in der Kaffeeküche ist natürlich schwer digital abzubilden. Hoffentlich finden wir künftig eine Kombination, damit auch digital so ein informelles Sich-Treffen möglich ist. Wenn man flexibel und kreativ ist, halte ich das sogar für wahrscheinlich. Maja Storch, eine bekannte Schweizer Psychologin, ermutigt dazu, die Leute zum Ideenaustausch auch digital zusammenzuführen – ein Raum soll eröffnet werden, um Austausch zu fördern.
Wir müssen auf jeden Fall aktiv in den Dialog gehen und dürfen nicht den Kopf in den Sand stecken und gleich abblocken, wenn etwas digital nicht genauso ablaufen kann, wie wir es analog gewohnt sind.
Klar scheint im Moment zu sein, dass ein sogenanntes Neues Arbeiten hybrid sein wird – einerseits analog und andererseits digital und remote. Und dass Präsenz in der Firma und Home Office dabei noch viel enger zusammenspielen werden. Beobachten Sie hier auch die Gefahr überhöhter oder undifferenzierter Erwartungen?

Ich würde Unternehmen empfehlen, zunächst eine Analyse zu den Arbeitsabläufen und der Art der Tätigkeit anzustellen. Nicht jede Tätigkeit ist digital aus dem Home Office heraus umsetzbar. Ich kenne ein Unternehmen, in dem die Arbeitszeit für Außendienst-mitarbeiterInnen im Büro am Firmenstandort dauerhaft auf drei Tage im Monat gedeckelt wurde und auch alle KundInnenkontakte, die bei Vertriebspartner stattfanden, ab nun aus dem Home Office digital stattfinden müssen. Da bin ich sehr skeptisch, ob alle wichtigen Aspekte – so auch zum Beispiel soziale und emotionale Bedürfnisse – in die Entscheidung mit einbezogen wurden, oder ob es nicht vielmehr um ein übertriebenes Kostenthema geht. Ich sehe einen differenzierteren Austausch auf Basis von Analysen als unerlässlich. Erst dann, finde ich, kann man adäquat entscheiden, welche Tätigkeiten digitalisiert oder doch analog ablaufen können. Und es benötigt außerdem Zeit, bis Menschen sich umstellen und an Neues gewöhnen. Aktive, kontinuierliche innerbetriebliche Reflexionsprozesse können hier sehr wertvoll sein.
Was werden die Erfolgsfaktoren sein, damit es gut läuft?
Da muss man wieder differenzieren: In einer Kreativwerkstatt ist das Arbeiten anders als in einem Produktionsbetrieb.
Aber generell sind als Führungskräfte künftig wohl weniger jene gefragt, die ausschließlich als FachexpertInnen agieren, sondern mehr die KommunikatorInnen, die vernetztes, kollaboratives Arbeiten forcieren,
die die Grundhaltung zu einem partizipativem Miteinander in sich tragen und bereit sind, Handlungs- und Entscheidungsspielräume ihren MitarbeiterInnen zu eröffnen. Die Pandemie ist auch eine Chance, unterschiedliche Formen des zukünftigen Arbeitens, abseits von Planspielen, nun konkret voranzubringen.
Von Carmen Windhaber; Fotos: Lisa Resatz