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Endlich digital denken lernen



Der Change-Experte Ingo Stefan sieht jetzt den perfekten Zeitpunkt für Unternehmen längst Verstaubtes loszulassen, anstehende Veränderungen anzustoßen und neue Ideen auszuprobieren.



Der studierte Fahrzeugtechniker Ingo Stefan ist Change Experte und viel gefragter Speaker. In seinen Vorträgen thematisiert er den radikalen gesellschaftlichen Wandel, der sich aufgrund des Zusammenspiels von Digitalisierung und demographischer Entwicklung massiv verstärkt und beschleunigt. Er bringt dabei vielfach noch unerkannte Problemstellen klar und konkret auf den Punkt und weist zugleich auf die brachliegenden Chancen und Möglichkeiten hin.


Für ihn ist klar: Die bisherigen Geschäftsmodelle, Strukturen und Prozesse sind von gestern und nicht für die Zukunft in einem digitalen Umfeld gemacht. Radical Change ist deshalb angesagt und nötig. Die aktuelle Situation der letzten Monate rund um Corona und deren Auswirkungen machen für Stefan den radikalen Veränderungsprozess noch viel deutlicher … aber auch die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben.


Herr Stefan, was raten Sie Managern, wie sie mit dem durch Corona bedingten beziehungsweise stark beschleunigten Change am besten umgehen?

Jetzt ist der perfekte Zeitpunkt für Unternehmen, längst Verstaubtes loszulassen, anstehende Veränderungen anzustoßen und neue Ideen auszuprobieren. Neue Geschäftsfelder werden nun ersonnen, neue Prozesse notgedrungen installiert und die bestehenden Strukturen zwangsläufig in Frage gestellt. Da gilt es jetzt weiterzumachen.

Dafür eignet sich der bekannte Dreisatz: wahrnehmen > beurteilen > entscheiden … und dann erst handeln. Als erstes gilt es die vielen Dinge, die gerade rund um das eigene Geschäftsfeld geschehen, genau zu beobachten. Überall wird anders zusammengearbeitet, neue Ideen werden ausprobiert, neue Prozesse zeigen sich, und das Miteinander wird flächendeckend neu definiert.

Jetzt zeigt sich, wie stabil und sicher das eigene Geschäftsmodell ist. Es zeigt sich aber auch, wohin sich das Geschäftsmodell in einer digitalen Art und Weise weiter entwickeln könnte.

Gerade durch die Distanz zueinander ist es derzeit so einfach wie selten davor, zur Ruhe zu kommen, die Dinge aus der Distanz genau WAHRZUNEHMEN und das bisherige Geschäftsmodell zu reflektieren. Es ist zu BEURTEILEN: Können wir so weitermachen wie bisher oder gibt es bereits Besseres für die Zukunft unserer Organisation? Schlussendlich muss jetzt ENTSCHIEDEN werden, wie es weitergehen soll, um rasch mit den erforderlichen Veränderungsschritten durchzustarten.

Welche alten Regeln des Change Managements gelten jetzt noch und was sind die neuen Anforderungen an Unternehmen in diesen Zeiten?

Am Change Management an sich hat sich nichts geändert. Die Rahmenbedingungen sind nun ideal, da sich gerade vieles ändert. Wir müssen erkennen, dass die alte Sicht auf unsere – analoge – Welt und die alten – analogen – Geschäftsmodelle nicht mehr passen. Jetzt bietet sich die Möglichkeit, darauf in adäquater Form zu reagieren. Nicht so wie bisher „dort ein bisschen, hier ein wenig“ an Geschäftsmodellen, Strukturen und Prozessen herumzubasteln. Der radikale gesellschaftliche Wandel wirkt seit Jahren auf uns ein, zeigt uns jetzt sein wahres Gesicht und verlangt förmlich nach fundamentalen Veränderungen … und nach keinen in Watte gepackten kontinuierlichen Verbesserungsprozessen wie bisher. Wir müssen uns jetzt auf das digitale Zeitalter einstellen und endlich digital denken lernen.

Worin liegen die Chancen, worin die Herausforderungen in diesem Change Prozess?

Die Chancen liegen in den während der Krise gemachten Erfahrungen, ganz gleich ob diese negativ oder positiv waren. Es zeigt sich vielerorts, dass es auch anders geht, als wir es bisher gewohnt waren.

Die positive Andersartigkeit werden viele Menschen auch nicht mehr missen wollen. Als Beispiel möchte ich Remote Work nennen: Viele Menschen erkennen nun, wie viel Zeit sie für die An- und Abreise zur Arbeit verschwenden. Die als positiv erlebten Erfahrungen in den bisherigen Arbeitsprozess einfließen zu lassen, wird nicht immer einfach sein. Jetzt gilt es, die aus der Not etablierten Schritte in das berufliche Umfeld zu integrieren und professionelle Bedingungen dafür zu schaffen. Führungskräfte sollten sich viel neues Wissen zu diesen breit gefächerten Möglichkeiten aneignen, zum Beispiel durch Lesen und miteinander in Diskussion Treten. Rasch eingeführte Prozesse funktionieren bisweilen ganz gut, aber sie sind ein improvisierter Zustand und zeigen lediglich, dass es grundsätzlich funktioniert. Die Professionalität und das dafür erforderliche Umfeld muss jetzt rasch nachgezogen werden.

Sehen Sie im Homeoffice auch eine Chance für Unternehmen, die das bisher nicht kannten, wie etwa in der Produktion? Wie sollen Unternehmen damit am besten umgehen?

Hier gilt es, zwei Sichtweise einzunehmen: die der Unternehmer und jene der Mitarbeiter.

Die Unternehmer können sich zurecht fragen: Brauche ich noch so viele Büroarbeitsplätze? Kann ich hier Einsparungen machen? In einem dienstleistungs- und wissensbasierten Unternehmen wird dies leichter möglich sein. Hier sollte beim zukünftigen Recruiting besonders darauf geachtet werden, dass auch jene Persönlichkeiten angelockt und eingestellt werden, die für dauerhaftes Remote Working geeignet sind. Dabei ist zu beachten, dass sich auch der Karrierebegriff und Karrieremöglichkeiten nachhaltig verändern werden. In der Produktion wird sich kurzfristig nicht so viel ändern, da diese erst durch Investitionen in Maschinen und Roboter nachgerüstet werden müsste … wenngleich die Produktion bei der Digitalisierung in überraschend vielen Betrieben noch weit hinterherhinkt und hier viel Potenzial schlummert.

Aus der Sicht des Personals stellt sich meist die Frage nach der – privaten – Zeiteffizienz versus der – privaten – Büroräumlichkeiten. Wenn die Entscheidung zugunsten Zeitgewinn und für ein professionelles Arbeitsumfeld in den eigenen vier Wänden fällt, dann wird diese Möglichkeit sicherlich vermehrt eingefordert werden. Die positiven Erlebnisse während der Krise werden dieses Selbstverständnis stark fördern.Für beide Seiten gilt: Für eine Dauerlösung braucht es Professionalisierung. Die Unterschiede der beiden Arbeitsweisen hinsichtlich der Kommunikation und Kooperation müssen gut abgestimmt und deren Eigenheiten berücksichtigt werden.

Wie werden sich die Erfahrungen, die wir jetzt mit Homeoffice machen, auf die Zeit danach auswirken?

Grundsätzlich funktioniert Homeoffice in vielen Branchen und Betrieben auf Anhieb gut. Wir lernen damit umzugehen und erkennen, was für eine dauerhafte Umstellung fehlt: technische Lösungen in Form von Software, Cloud-Server, Kameras und einiges mehr. Aber auch die räumlichen Voraussetzungen zu Hause sind verbesserungswürdig. Ein Video aus dem Wohnzimmer war während der Quarantäne ok. Zukünftig braucht es jedoch ein höheres Niveau in der Arbeitsweise.

Ich persönlich empfehle Unternehmen, sich für eine der beiden Versionen – Präsenzarbeit oder Remote Work – zu entscheiden. Die Mischform funktioniert nie wirklich gut, da beide Arbeitsweisen unterschiedliche Abläufe aufweisen.

Zudem ist nicht jede Person für eine dauerhafte Remote-Work-Lösung geeignet. In den nächsten Monaten wird sich zeigen, wer noch gut zusammenarbeiten kann, oder eben nicht.

Gerade digitale Geschäftsmodelle sind in Zeiten der Isolation stark gefragt. Haben Sie bestimmte im Kopf, die sich gut umsetzen lassen?

Wer bereits digitale Prozesse hat, kann die Vorteile nützen und Vollgas gegeben. Wer noch keine hat, erkennt den eigenen Nachteil, kann aber nachholen, was in den letzten 15 bis 20 Jahren versäumt wurde. Konkrete Vorschläge für zukunftsweisende Geschäftsmodelle können nur direkt auf die jeweiligen Unternehmen in den jeweiligen Branchen zugeschnitten werden. Derzeit erleben wir nur den Einfluss der digitalen GeschäftsPROZESSE: An den GeschäftsMODELLEN der meisten Unternehmen hat sich bisher allerdings nichts geändert. Nun besteht die Notwendigkeit mit digitalen Geschäftsmodellen im eigenen Unternehmen durchzustarten, nicht nur Prozesse und Strukturen zu überarbeiten.

Das heißt, dass sich die Arbeitswelt – zumindest im Bereich der Prozesse – nach der Krise nachhaltig verändern wird?

Definitiv. Insbesondere bei den Prozessen wird sich viel bewegen. Meine Sorge ist jedoch, dass nur an den Prozessen weitergearbeitet wird. Wichtig und richtig wäre jedoch, sich jetzt um die alten, aus der analogen Zeit stammenden Geschäftsmodelle zu kümmern und diese auf eine digitale Zukunft hin vollkommen neu zu denken. Das Denken in Prozessen und Strukturen ist hierbei hinderlich. Diese beiden Bereiche werden sich durch ein digital gedachtes Geschäftsmodell noch viel stärker verändern … und das auch müssen. Ein neues Geschäftsmodell verlangt ganz „automatisch“ nach anderen Prozessen und Strukturen als bisher.

Die Krise sollte als Versuchslabor begriffen werden, in der neue Systeme ausprobiert werden, ohne dass es gleich zu 100 % gelingen muss. Jetzt sind alle Menschen sehr verständnisvoll, wenn etwas nicht ganz so perfekt funktioniert.

Haben Sie Erfolgsrezepte parat, die man gerade als Führungskraft und Change Manager in diesen Zeiten anwenden könnte und sollte?

Seien Sie neugierig, experimentierfreudig und vor allem mutig, um neuartige Schritte in eine neue Ära zu wagen. Wahrnehmen, beurteilen und entscheiden sind in dieser Startphase sicherlich eine entscheidende Stütze. Von dieser Entscheidung ausgehend wird sich zeigen, ob sie überhaupt motiviert sind, um sich wirklich zu verändern. Ihr wirkliches Wollen, Können und Dürfen wird jetzt abgeprüft. Danach heißt es, die erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen, um dem radikalen Wandel gerecht zu werden. Damit meine ich in erster Linie Neues, Anderes als bisher zu erlernen und viel Bekanntes zu verlernen. Neue Geschäftsmodelle fordern andere Kenntnisse, Fähigkeiten und Kompetenzen. Beispielsweise weg von reiner Planungsarbeit hin zu strategischer Arbeit. Auch die zeitlichen, räumlichen, personellen und finanziellen Rahmenbedingungen sind für diesen gewaltigen Change bereit zu halten. All das ist jetzt zu bedenken und sollte vorausschauend geplant werden, um schlussendlich die Chance zu haben, nach der Krise den U-Turn in eine erfolgreiche Zukunft in einem sich stark verändernden Umfeld zu schaffen.

Und wenn Sie nicht bereit sind Fehler zu machen, ja sogar zu scheitern, dann lassen Sie es gleich ganz sein. Ohne Fehltritte klappt es einfach nicht.



Von Carmen Windhaber; Fotos: Ingo Stefan

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